Vagrant
1884
William Fife III experimentiert wie viele Designer auch, mit der aktuellen Vermessungsformel, der 1730 Rule, die zu den sogenannten plank on edge = Planke-Hochkant-Designs geführt hat.
-->Vermessungsformeln
Es entsteht ein 18ft Rennkutter, lang, schmal, mit einem überlangen Bugspriet und einer enormen Segelfläche, die diese kleine Yacht noch zierlicher wirken lässt. Das keck geschwungene Heck mit dem eleganten, kurzen Überhang und der gerade Vordersteven repräsentieren noch das viktorianische Zeitalter, der schmale, tiefgehende Rumpf ist der Vermessungsvorschrift, des experimentellen und technischen Fortschritts geschuldet und bietet Platz für eine Menge Blei.
Vagrant hat bei einer Wasserlinienlänge von nur 18 ft = 5,50m eine Breite von 1,60m, einen Tiefgang von 1,30m und eine Verdrängung von ca. 3 t .
Zur Rumpflänge von 6,70m addiert sich ein Bugspriet von insgesamt 4,30m, der 2,70m über den Vordersteven hinausragt und mit einem 5,5m langen Baum zu einer unglaublichen Segelfläche von 720 sqft (= 66,9 qm) führt.
Der Spinnakerbaum hat eine Länge von 6,70m, sodass Vagrant ausgebaumt 11,90m breit ist, und das bei einer Rumpfbreite von nur 1,60m !
Aufgrund des weit nach hinten herausragenden Großbaums wurden diese Yachten mit überhängendem Heck konstruiert, einzig, damit der Großbaum besser zu bedienen war.
Eine seetüchtige, kleine Yacht, die allerdings aufgrund des mangelnden Auftriebs im Vorschiffbereich sehr nass segelt.
Vagrant wurde kostengünstig für 60 Pfund bei Culzean Shipyard gebaut. Ihr Aufgtraggeber und Eigner, der Ire Thomas Trocke, nahm mit ihr zwischen 1884 und 1887 in Dublin Bay erfolgreich an den Regatten der populären 18ft-Klasse teil.
Bereits 1887 wurde diese Klasse aufgrund neuer Vermessungsregeln jedoch wieder abgeschafft.
Vagrant wurde verkauft und ging durch sage und schreibe 14 Eignerhände, bevor sie 1979 bei Hal Sisk vor Anker ging, der die Restaurierung in Angriff nahm. 1983 wurde sie wieder zu Wasser gelassen, exakt so, wie sie 1884 ausgesehen hatte.
Hal segelte mit ihr 1984 zurück nach Schottland, wo sie seinerzeit gebaut worden war und zeigte ihr die ganze Westküste. Obwohl die Begeisterung groß war, wenn Vagrant irgendwo auftauchte, war es für Hal schwierig, jemanden mit genügend Enthusiasmus zu finden, der sie im Segeltrimm pflegen und bewahren würde. Als es Zeit war, sich von ihr zu trennen, beschloss er daher, sie dem Scottish Maritime Museum zu überlassen, mit der Auflage, dass Vagrant dort als segelndes Monument erhalten werden sollte.
Seit 1985 ist Vagrant im Besitz des Museums, sie wurde aber nicht so behandelt, wie Hal Sisk es sich gewünscht hat und ist daher erneut stark restaurierungsbedürftig.
Inzwischen gibt es aber gute Nachrichten. Das Museum in Irvine steht finanziell im Moment sehr gut da und hat einen Bootsbauer aus Fairlie beauftragt, die erforderlichen Arbeiten in Angriff zu nehmen.
Vagrant entstand im Maßstab 1:4, also im gleichen Maßsstab wie Tringa. Wir verwendeten Teakholz, Mahagoni und Eiche in „echt“ für sämtliche Ausbauten, Fußböden, das Deck und das Cockpit, sowie Oregon Pine für die Spieren.
Die Großsegelwinde ist wie gewohnt von Schepp, eine neuer Gigaherz-Sender und Lipo-Akkus sorgen dafür, dass sich Vagrant auf dem neuesten technischen Stand befindet.
Für die Vorsegel leisteten wir uns die Genuawinde von Schepp mit den beiden Kupplungen, die mittels eines dreistufigen Schalters das Loswerfen der Schot in den Wenden ermöglichen und anschließend das Dichtholen auf dem neuen Bug, je nach Schalterstellung auf Backbord oder Steuerbord.
In Sachen Beschläge betraten wir Neuland. Da beim Original verzinktes Eisen Verwendung gefunden hatte, taten wir es hier gleich, allerdings war Messing wegen der besseren Verarbeitungsmöglichkeiten das Ausgangsmaterial.
Mit einer galvanischen Verzinkung versehen, bekamen die Beschläge das stimmige altertümliche und etwas abgegriffene Aussehen.
Bei den Spieren haben wir auch etwas Neues ausprobiert. Oregon Pine ist feinmaserig und leicht zu bearbeiten, dafür aber auch sehr empfindlich und benötigt ein paar Lackschichten mehr für den optimalen Schutz.
Dafür ist das Material aber sehr leicht und für eine Yacht mit übergroßem Rigg einfach ideal.
In vielen Stunden Arbeit entstand so eine richtige Ausnahmeerscheinung, auch für unsere Verhältnisse. Als Vagrant das erste Mal aufgeriggt war, stellten wir fest, dass wir sie richtig ins Herz geschlossen hatten.
Im August 2013 fanden wir dann endlich die Zeit, um sie ausgiebig zu testen.
Mit Vollzeug ausgerüstet, machte Vagrant die erste längere Ausfahrt. Der Wind war sehr wechselhaft, von überwiegend schwach bis sehr böig, und drehte noch dazu, insgesamt sehr ungünstige Bedingungen. Zudem war noch die neue Fernsteuerung mit anderer Knüppelbelegung und die Arbeitsweise der Vorsegelwinde von Schepp kennen zu lernen.
All das beeindruckte Vagrant wenig, sie segelte los und ließ den Steuermann mit seinen hilflosen Versuchen, ihrer Herr zu werden, am Ufer zurück.
Sie luvte an, wie es ihr gefiel, fiel ab, wenn es ihr in den Sinn kam, legte sich auf die Seite und sprintete los, wenn der Wind etwas auffrischte, parkte in den Wenden, wenn sie nicht genügend Speed hatte und fuhr dann wirklich rückwärts.
Himmel, was für ein Modell! Was sagte noch einer ihrer Vorbesitzer: "Sie segelt wie eine "Zicke", und vorwärts genauso schnell wie rückwärts..."
Uns wurde überdeutlich klar, was er damit meinte.
Uns packte der Ehrgeiz, hier gab es offensichtlich noch einiges zu tun.
Nach einigen Änderungen starteten wir den nächsten Versuch. Vagrant wurde mit Vollzeug geslippt, alles Tuch war gesetzt und siehe da, jetzt war sie auch zu segeln. Das längere Toppsegelgestänge sorgte für einen besseren Stand und ermöglichte einen flacheren Trimm, der zusammen mit dem ebenfalls flacher getrimmten Groß und den optimierten Vorsegelschoten der Luvgierigkeit den Garaus machte. Vagrant läuft jetzt endlich nahezu geradeaus, reagiert aber immer noch sehr sensibel auf die Segelstellung zum Wind und erfordert sehr viel Fingerspitzengefühl an der Pinne und den Schoten. Stimmt alles, ist es eine Freude, mit ihr unterwegs zu sein. Vagrant ist erstaunlich flink, trotz ihres Gewichts, kann aber dadurch eben auch eine Menge Wind vertragen. Böen werden bei viel Wind kaum noch mit weiterer Krängung oder Anluven, sondern mit Abdrift kompensiert, bei gleich bleibendem Kurs, Lage und Geschwindigkeit. Ein Verhalten, das offensichtlich dem großen Gewicht und der Rumpfform geschuldet ist. Für Regattasegler bedeutet das folglich, dass man es mit der Segelfläche am Wind nicht übertreiben sollte, wenn man nicht unnötig lange Wege zur Wendemarke gehen will. Das Original wird übrigens schon bei drei Windstärken gerefft.
Raumschots wird dagegen gern alles gesetzt, was an Bord ist. Allein die Länge das Spibaums, den Vagrant seinerzeit mitführte, spricht für sich und lässt erkennen, dass es hinsichtlich der Segelfläche vor dem Wind kaum Grenzen gab. Ausgebaumt wächst Vagrant im Original zu einer stattliche Breite von 11,90m heran, die enorme Tuchfläche lässt den ohnehin schon schmalen Rumpf darunter wie ein Streichholz wirken. Die waren damals schon verrückt, die Schotten...
Bei allem segelt das Modell sehr trocken, der schmale Rumpf schneidet wie ein scharfes Messer durch die Wellen und produziert kaum Bug- oder Heckseen. Sie krängt auch nie so weit, dass Wasser ins Cockpit laufen könnte und liegt in jeder Situation auch noch gut auf dem Ruder, sodass man sie immer wieder problemlos ans Ufer zurückholen kann. Alles Dinge, die wir so nicht erwartet hatten, kriegt man auf der großen Vagrant doch häufiger nasse Füße, wenn der Wind nahezu von vorn kommt und die Wellen sich am steilen Vordersteven brechen.
Auch die Genuawinde arbeitet gut mit den drei Vorsegeln zusammen, selbst der Flieger wechselt problemlos die Seite, nachdem die Vorsegelschoten beim Wenden oder Halsen losgeworfen wurden.
Dies sorgt für ein sehr realistisches Fahrbild, allerdings müssen die Schoten auf dem neuen Bug sehr schnell dichtgeholt werden, sonst bleibt Vagrant im Wind auf der Stelle stehen und treibt beständig und kursstabil rückwärts, eine Situation, aus der man sie nur schwer wieder herausbekommt.
Kurz gesagt, von unseren Modellen ist Vagrant sicherlich das aufwändigste und anspruchsvollste, was wir bislang produziert haben. Das betrifft sowohl Aufriggen als auch das Segeln an sich. Bei keinem Modell haben wir soviel Zeit in die Optimierung der Segelansteuerung und den Trimm gesteckt und bei keinem Modell so lange gebraucht, um es auf dem Wasser einigermaßen naturgetreu zu bewegen. Selbst jetzt ist noch nicht alles perfekt, aber wir sind auf einem guten Weg.
Wenn man sich die Berichte der Vorbesitzer des Originals ansieht, hatten jene mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Nicht umsonst wurde Vagrant berühmt-berüchtigt
als „the unguided missile of the Clyde“ bezeichnet. Unsere Probleme kommen daher nicht von ungefähr.
Vagrant ist eben ein Kind ihrer Zeit, aber damals war man es gewohnt, mit den Tücken dieser Designs umzugehen. Sicherlich hat sich in Sachen Schiffbau und Yachtkonstruktion in den letzten 130 Jahren einiges getan, aber eins gilt heute immer noch: Um Extremkonstruktionen welcher Art auch immer erfolgreich bei Regatten ins Ziel zu bringen, ist eine Menge Zeit, Erfahrung und Übung vonnöten, daran hat sich in all den Jahren nichts geändert. Aber am Ende hat sich der Einsatz immer gelohnt.
Letztendlich ist es diese Herausforderung, die das Ganze so interessant macht und uns immer wieder dazu treibt, Yachtgeschichte lebendig zu machen.